Ein Märchen zum Jahreswechsel

Es war einmal ein Mädchen, das lebte mit seiner Stiefmutter und seiner Stiefschwester in einer Hütte am Wald. Obwohl (oder gerade weil) sie hübsch anzuschauen und zudem noch sehr klug war, konnte die Stiefmutter es nicht leiden und bevorzugte ihr leibliches Kind, das hingegen mit wohltuenden Eigenschaften nicht über Gebühr gesegnet war.

Eines Tages waren Mutter und Tochter des Mädchens so überdrüssig, dass sich einen Plan überlegten, sie ein für alle Mal loszuwerden. „Geh in den Wald und hole uns Erdbeeren, und komm nicht zurück ehe du welche gefunden hast!“ befahl die Mutter an einem eisig kalten Tag im Januar.

Das Mädchen machte sich auf den Weg – was blieb ihr auch anderes übrig? Durch den hohen Schnee kämpfte sie sich tapfer Schritt um Schritt voran, ohne recht zu wissen, wohin sie eigentlich gehen sollte. Erdbeeren würde sie ohnehin nicht finden.

Da sah sie in der Ferne ein helles Feuer leuchten, und mangels Alternativen wählte sie diese zu ihrem Ziele aus. Als sie recht nah heran gekommen war, blieb sie stehen. Zwölf alte und bärtige Männer sah sie ums Feuer sitzen, in wichtige Besprechungen vertieft. Es ging eine Weile, bis einer – er schien der Vorsprecher der Runde zu sein – auf das Mädchen aufmerksam wurde und sprach: „Was tust du hier mitten im Winter? Komm zuerst her und wärme dich an unserem Feuer!“ Das Mädchen tat wie geheißen, und auch wenn es ihr durchaus peinlich war, vertraute sie den Männern den Auftrag an, in dem sie zuweg war. Die Männer hörten zu und beratschlagten sich. Da sprach der erste, der sich als Januar vorstellte, zu einem der gegenüber am Feuer Sitzenden: „Mai, tritt du vor und gib unserer kleinen Freundin eine Erdbeere.“ Der Mai tauschte mit dem Januar die Plätze, und schon schmolz vor ihm der Schnee, und inmitten einer kreisrunden Öffnung trat der Waldboden hervor, auf ihm wuchs eine Erdbeere, und als sie in Sekundenschnelle zur Reife gekommen war, pflückte der Mai sie und gab sie dem staunenden Mädchen. Dann tauschten die Männer wieder ihre Plätze, die Lücke im Schnee schloss sich so schnell wie sie gekommen war und das Mädchen hielt eine Erdbeere in ihren Händen, schöner und röter und duftender als sie je gesehen hatte. Voller Dankbarkeit im Herzen verabschiedete sie sich von der wunderlichen Runde und machte sich auf den Heimweg.

In jener Hütte am Waldrand, wo das Mädchen wohnte, blieb der Haussegen schief wie eh und je. Veilchen und Äpfel und allerlei andere Köstlichkeiten sollte sie beibringen, während die Winterstürme noch laut übers Land fegten. Und all dies gelang dem Mädchen auf ähnlich wundersame Weise. Bis die Stiefmutter irgendwann bei sich dachte: „Es scheint ja wirklich leicht zu sein, was immer man will im Winternachtwald zu finden“, und ihre leibliche Tochter schickte. Auch die fand die Männer am Feuer. Statt freundlich zu bitten platze sie aber sogleich in die Runde hinein, unterbrach jäh deren wichtige Besprechungen und forderte plump die Erdbeeren ein, gleich die Großkiste voll, die sie mitgebracht hatte. Auf diese Tonlage aber waren die Männer gar nicht gut zu sprechen. Sie schickten die Stiefschwester heim, und weil diese den Weg zurück aber nicht fand, brach die Mutter auf sie zu suchen. Ohne einander zu finden erfroren sie beide im Wald.

Das Mädchen aber wurde zur Frau und lebte ein recht gutes Leben in jener Hütte am Waldrand. Sie freute sich an den köstlichen Erdbeeren, wenn sie im Mai wuchsen und an den Äpfeln im August. Ob sie dennoch in manch kaltem Wintersturm zum Feuer gestapft ist? Vermutlich nicht, denn ohne die böse Stiefmutter im Nacken blieb sie doch lieber am Herdfeuer sitzen und freute sich an den Nüssen und Mandelkernen, die der Winter für sie bereit hielt.

Ich glaube kaum, dass es in der Zeit, in der dieses Märchen entstanden ist, schon Supermärkte gab und in diesen importierte Erdbeeren zur Weihnachtszeit. So gesehen ist es heute vielleicht viel aktueller als damals.

Für mich ist es das „Märchen von der saisonalen Küche“. Es handelt davon, dass jeder Monat seine Zuständigkeiten hat, wann welche Früchte zur Reife kommen. Und es handelt von Menschen, die mit der Natur ein stückweit verhandeln können – und von Menschen, die denken, dass sie nicht verhandeln müssen, sondern bestimmen können.

Ich weiß übrigens nicht mehr so recht, wo ich das Märchen gehört oder gelesen habe – ich meine, es kommt aus Russland.