Der Doppelte Weihnachtsmann – von Paul Maar
Ich muss ungefähr sechs Jahre alt gewesen sein, als ich anfing, nicht mehr so recht an den Weihnachtsmann zu glauben. „Gibt es den Weihnachtsmann eigentlich wirklich?“, fragte ich Mama, als wir am Nachmittag gemütlich zusammensaßen und Weihnachtsschmuck bastelten. „Du hast ihn doch oft gesehen“, sagte Mama. „Erinnerst du dich nicht an letztes Weihnachten, wie er hereinkam hier ins Zimmer, mit seinem langen Mantel und seinem weißen Bart? Wir haben doch zusammen Weihnachtslieder gesungen.“ „Jaja“, sagte ich. „Aber wieviel Weihnachtsmänner gibt es eigentlich?“ „Wie viele? Natürlich nur einen. Den Weihnachtsmann!“,sagte sie.
„Und der kommt auch zum Klaus?“, fragte ich weiter. Klaus war mein Freund. Er wohnte ein paar Häuser weiter. „Ja, natürlich“, sagte Mama. „Und zur Elke nach Paderborn auch?“, Elke war vor zwei Monaten mit ihren Eltern nach Paderborn gezogen. „Ja, zu Elke auch“, sagte Mama. „Und zu den Kindern in München und in Hamburg?“, fragte ich. „Zu denen kommt er auch!“ „Wie kann er denn am gleichen Abend in München und in Hamburg und in Paderborn sein?“, fragte ich. „Wie er das kann, weiß ich auch nicht“, sagte Mama.“Er kann es halt. Dafür ist er eben der Weihnachtsmann. Als Weihnachtsmann kann er vielleicht an zwei Orten gleichzeitig sein.“
Damit waren meine Zweifel aber noch lange nicht verschwunden. Ich hatte sogar einen bestimmten Verdacht. „Wieso ist Papa eigentlich nie dabei, wenn der Weihnachtsmann kommt?“, fragte ich. Mama tat erstaunt. „Ist er denn nie dabei?“, fragte sie. „Nein“, antwortete ich. „Jedesmal sagt er am Weihnachtsabend, er müsse noch was erledigen, und dann geht er weg. Und gleich darauf kommt dann der Weihnachtsmann. Und wenn der Weihnachtsmann mit dir und mir Lieder gesungen hat und wieder weggegangen ist, dann kommt Papa zurück und fragt uns, wie es denn gewesen sei mit dem Weihnachtsmann!“ „So ein Zufall!“ sagte Mama. „Ich werde Papa sagen, dass er diesmal dableiben soll, wenn der Weihnachtsmann kommt.“
Als Papa am Abend nach Hause gekommen war, hörte ich die beiden in der Küche halblaut miteinander reden. Ich ging leise zur offenen Küchentür, um zuzuhören. „Du kannst es jedenfalls nicht mehr machen“, sagte Mama gerade zu Papa. „Er hat etwas gemerkt.“ „Aber wer denn dann?“, fragte Papa. „Vielleicht Robert?“, sagte Mama. „Wir haben Robert doch sowieso zu Weihnachten eingeladen. Da kann er ja … “ In diesem Augenblick sah sie mich in der Tür ste hen, brach mitten im Satz ab und sagte zu mir: „Du musst jetzt mal in dein Zimmer gehen. Wir wollen gerade etwas Wichtiges besprechen. Etwas, das nur die Erwachsenen angeht.“ Damit schob sie mich in mein Zimmer, und ich konnte nicht erfahren, was die beiden wohl besprechen wollten.
Drei Tage später war Weihnachtsabend. Wir saßen im Eßzimmer und warteten auf den Weihnachtsmann. Und auf Onkel Robert. Onkel Robert war der Bruder von Papa. Er wollte dieses Weihnachten mit uns feiern. „Wo Robert nur bleibt?“, sagte Papa und schaute auf die Uhr. „Er wollte doch schon längst dasein.“ „Es schneit. Vielleicht kommt er mit dem Auto nicht durch“, sagte Mama. „Hoffentlich hast du nicht recht“, meinte Papa und schaute wieder auf die Uhr.
Wir warteten eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, und ich fragte alle fünf Minuten, wann denn der Weihnachtsmann käme. Aber er kam nicht. Und Onkel Robert auch nicht. Papa wurde immer ungeduldiger. Plötzlich sprang er auf, ging aus dem Zimmer und rief uns im Hinausgehen zu: „Ich musss noch ’ne Kleinigkeit erledigen. Es dauert nicht lange, ich bin gleich wieder da!“
Ich fand es sehr schade, dass Papa gerade jetzt weg musste.Ich hatte Sorge, der Weihnachtsmann könnte vielleicht wieder gerade dann kommen, wenn Papa weg wäre. Und wirklich: Papa war kaum fünf Minuten aus dem Zimmer, da klopfte es an die Tür, und der Weihnachtsmann kam herein. Es war wie jedes Jahr: Erst fragte er mich, ob ich auch immer schön brav gewesen wäre. Dann sangen wir zusammen „Stille Nacht“, und dann gingen alle hinüber ins Weihnachtszimmer. Nach einer Weile sagte Mama: „So, lieber Weihnachtsmann, jetzt hast du dir einen ordentlichen Schluck verdient, jetzt darfst du in die Küche gehen und was trinken!“ Und der Weihnachtsmann ging in die Küche.
Kaum war der Weihnachtsmann hinter der Küchentür verschwunden, da hörten Mama und ich vom Flur her laute Schritte und Gepolter. „Um Gottes willen!“, rief Mama, irgendwie erschrocken. „Nein, Robert … “ Da ging die Tür auf. Aber es war nicht Robert, der hereinkam, sondern der Weihnachtsmann. Weiß der Himmel, wie er es geschafft hatte, von der Küche aus in den Flur zu kommen! Vielleicht war er aus dem Küchenfenster gestiegen und zum Flurfenster wieder herein. Er kam direkt auf mich zu. Ich war so damit beschäftigt, meine Geschenke auszupacken, dass ich ihn gar nicht weiter beachtete. Schließlich hatten wir uns ja eben lange unterhalten und zusammen ein Lied gesungen!
„Na, willst du denn gar nicht aufstehen?“, fragte der Weihnachtsmann mit tiefer Stimme und baute sich vor mir auf. Erstaunt stellte ich mich vor ihn hin. „Nun, bist du denn auch immer brav gewesen?“, fragte er und schaute mich streng an. „Das hab ich dir gerade doch schon gesagt“, sagte ich erstaunt. „Wann gerade?“, fragte der Weihnachtsmann. „Na eben“, sagte ich. „Bevor wir zusammen gesungen haben.“ „Wann sollen wir gesungen haben?“, fragte der Weihnachtsmann ganz ratlos.
Ich wusste nicht, ob er wirklich so vergesslich war oder ob er vielleicht einen Spaß machte. „Was haben wir denn angeblich gesungen?“,fragte der Weihnachtsmann weiter. „Na, „Stille Nacht, hei“ … „So weit war ich gerade gekom men, da schaute ich zufällig zur Küchentür hinüber. Und da sah ich etwas so Verwunderliches, dass ich aufhörte zu reden und mit offenem Mund staunte. Mama hatte doch recht gehabt! Der Weihnachtsmann konnte wirklich an mehreren Orten gleichzeitig sein. Denn der Weihnachtsmann stand nicht nur vor mir, mit seinem langen Mantel und seinem weißen Bart, er stand auch gleichzeitig in der Küchentür, hatte ein Glas Wein in der Hand und schaute verblüfft zu uns ins Zimmer. Als der Weihnachtsmann sich sah (oder muss man sagen: Als die Weihnachtsmänner einander sahen?), machten beide kehrt, gingen hastig aus dem Zimmer und klappten die Tür hinter sich zu.
Nach einer Weile kam Papa zurück. Und mit ihm Onkel Robert, der inzwischen auch eingetroffen war. „Stellt euch vor, ich habe den Weihnachtsmann doppelt gesehen!“, erzählte ich ihnen gleich aufgeregt. Aber sie gingen gar nicht darauf ein, sondern meinten nur, es sei höchste Zeit, dass wir nach all diesen Aufregungen mit dem Weihnachtsabendessen begännen. Was sie allerdings mit „Aufregungen“ meinten, ist mir nie ganz klargeworden. Denn schließlich waren Papa und Onkel Robert ja gar nicht dabeigewesen, als ich diese aufregende Weihnachtsmannverdopplung erlebte!
Die Geschichte wurde ursprünglich im Sammelband „Warten auf Weihnachten – 24 Geschichten bis zum Heiligabend“ im Oetinger Verlag veröffentlicht.