Die Kunst, Bäume zu schneiden

Am letzten Wochenende habe ich an einem Baumschnittkurs teilgenommen. Die Grundlagen der Schnittkunst an dieser Stelle zu vermitteln, würde zu weit führen. Aber die Ehrfurcht dem Lebewesen Baum gegenüber, die ich von diesem Kurs mitgenommen habe, die möchte ich gern weitergeben. So oft macht man es sich ja nicht bewusst, dass man von einem Baum im Normalfall ziemlich genau die Hälfte sieht. Spiegelverkehrt zu Stamm und Krone wächst unterirdisch das Wurzelwerk. Kontinuierlich werden von den Wurzeln Wasser und Nährstoffe in die Krone befördert, und im gleichen Moment, in einem anderen Leitsystem werden Zucker und Proteine, die in den Blättern erzeugt werden, in die Wurzeln transportiert. Ohne dass ein Mensch mit erfahrener und professioneller Hand eingreift, wächst ein Baum zu einer in sich stimmigen und harmonischen Form heran, Wurzel- und Kronenwachstum sind optimal aufeinander abgestimmt, Zweige und Äste suchen sich ihren guten Weg ans Licht, und was von außen unsymmetrisch aussehen kann, erweist sich meist als sinnvolle Reaktion auf äußere Einflüsse wie Licht, Wind oder Bodenverhältnisse.
Nur in seltenen Fällen hat ein Baum so starke Schäden durch Stürme, Blitzschläge oder Krankheiten erlitten, dass der Schnitt durch menschliche Hand seinen Gesundheitszustand tatsächlich verbessern kann. In aller Regel greift man nicht in erster Linie zum Wohl des Baumes zur Astschere, sondern weil die Ziele und Bedürfnisse des Baumbesitzers sich nicht ganz mit dem natürlichen Lauf der Dinge decken: Äste wachsen zu nah an Häuserwände und Nachbargärten heran oder stören den Straßenverkehr; Apfelbäume tragen in einem Jahr stark und im nächsten fast gar nicht, Früchte sind für den menschlichen Geschmack zu klein, zu sauer und zu ungleichmäßig.
Der Baumschnittkurs hat mich von der Idee kuriert, Bäume im Hausgarten einfach mal so ein bisschen zu schneiden. Vorm nächsten Baumschnitt werde ich mir Zeit nehmen, den Baum in seiner Gestalt erstmal hinreichend zu betrachten. Dann werde ich für mich klären: Was ist mir denn wichtig, was der Baum nicht auch von allein schon leistet? Ich denke schon, dass ich den einen oder anderen Ast mit der Handsäge entfernen werde, wenn er zu dicht an einem anderen Ast wächst und aller Wahrscheinlichkeit nur kleine Miniäpfel tragen wird. Aber ich werde mit wacherem Blick, mit einem neuen Verständnis für das Wunderwerk Baum und mit mehr Behutsamkeit zur Tat schreiten. Und was sicher auch spannend ist: Die Bäume in jedem Jahr vor und nach dem Schnitt zu fotografieren, um so im Lauf der Jahre immer mehr zu lernen, ob das, was ich mit meinen Schnitten erreichen wollte, auch tatsächlich eingetreten ist.

Katja Brudermann für die Bodenseebauern

Bildnachweis: Katja Brudermann